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26.10.2022

Kleine Grabsteine aus Papier

Sterbebilder als Medien der Erinnerung

Ihrer Sammlung widmet sie viel Zeit: Irmgard Jörg freut sich über jedes Sterbebild, das den Weg zu ihr nach Gaimersheim findet. Für ihre stetig wachsende Sammlung hätte sie gerne ein kleines Museum, zumindest einen zugänglichen Raum, „damit ein bisschen was bleibt“. Foto: Jörg

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“, schrieb der fränkische Schriftsteller Jean Paul. Vor allem die Erinnerungen an jene, die wir gehen lassen mussten, sind uns die kostbarsten und diejenigen, die man wachhalten möchte. Unter anderem durch einen Brauch, der gerade in katholischen Gegenden fester Bestandteil von Abschieds- und Beerdigungsritualen geworden ist: das Sterbebildchen. Gleichsam wie ein letzter Gruß wird es an die Trauergäste verteilt, meist in Form eines kleinen vierseitigen Klappkärtchens. 

Gedenken und Gebet

Die ältesten erhaltenen Totenzettel, wie sie auch genannt werden, stammen aus dem 17. Jahrhundert, vor allem in den Niederlanden erfreuten sie sich großer Beliebtheit. Über das gesamte katholische Europa verbreitete sich der Brauch erst im 19. Jahrhundert, Bayern erreichte er gegen Mitte des 19. Jahrhunderts und wurde von dieser Zeit an immer üblicher. Der Wandel in der Begrifflichkeit – von Totenzettel zu Sterbebild – beschreibt dabei auch den Wandel in der Gestaltung: Während heute vor allem die Auswahl der Bilder von besonderer Bedeutung zu sein scheint, dominierten früher die Textelemente, Fotos waren in Bayern anfangs selten abgebildet. Die Totenzettel waren bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts beredte Lebenszeugnisse, die Familien- und Gesellschaftsstand, den Beruf oder den des Gatten enthielten, manchmal sogar Charaktereigenschaften. Im landwirtschaftlichen Bereich waren Hof- und Flurnamen von großer Bedeutung. Neben dem Geburts- und Sterbedatum war häufig die Dauer des Leidens, bei Unglücks- oder gewaltsamen Todesfällen die Todesursache genannt, gerne vermerkte man auch den Empfang der Sterbesakramente. Ursprünglich dienten die Totenzettel als Aufruf zum Gebet: Hinterbliebene sollten beim Anblick des Zettels für die Seele des Verstorbenen beten. In manchen Fällen waren Ablasskonditionen angegeben: 100, 300 oder 500 Tage, um die man die Zeit im Fegefeuer verkürzen konnte. An diese Intention der Sterbebilder erinnern heute noch oft die abgedruckten Worte „Vater unser“ und „Ave Maria“, die als Aufruf gedacht sind. Beliebt für die Gestaltung der Titelseite waren häufig Kreuzigungsszenen oder Madonnenbilder, auch Figuren aus bekannten Wallfahrtsorten wurden häufig gewählt. Von den 1970er- bis hin zu den 1990er-Jahren galten Dürers „Betende Hände“ als eines der gefragtesten Motive für Sterbebilder. Was sich zusehends verknappte, war der in den Sterbebildern enthaltene Text. 

Der Tod als Dauergast

Das bedauern vor allem Menschen wie Irmgard Jörg. In ihrem Haus in Lippertshofen, einem Gemeindeteil des Marktes Gaimersheim, ist der Tod ein steter Gast. Aber kein unwillkommener. Im Gegenteil: Jörg sammelt seit vielen Jahren Sterbebilder aus aller Welt. Mittlerweile zählt ihre Sammlung zu den größten in Deutschland, stolze 560.000 Exemplare nennt sie ihr eigen. Begonnen habe es, erzählt die Sammlerin, mit einer Schublade voller Sterbebilder, wie sie sich wohl in vielen Haushalten findet. Sie habe sich mit Ahnenforschung befasst, weil sie nur wenig über den Stammbaum gewusst habe. Durch die Sterbebilder konnte sie die Verwandten dann zuordnen: „Und plötzlich hatten sie alle Gesichter.“ 

Berührungsängste mit dem Tod hat Jörg nicht. Das liege unter anderem an ihrer Großmutter, erklärt sie, die immer gern auf Friedhöfe gegangen sei. Sie nahm die kleine Irmgard eines Tages mit in eine Leichenhalle in Geisenfeld, in der gerade Verstorbene aufgebahrt waren. Bei einer der Toten handelte es sich um eine junge Frau, das dunkle Haar zu dicken Zöpfen geflochten, die Wangen und Lippen rot geschminkt. Jörg erinnert sich noch heute gut an ihre freudige Überraschung: „Mei, da liegt ja des Schneewittchen!“ Für das Mädchen stand damit fest: Märchen sind eben doch wahr, und Schneewittchen liegt in Geisenfeld begraben. 

Bis heute sind es, wenn auch keine Märchen, so doch Geschichten, die mit den Sterbebildern in Jörgs Sammlung verbunden sind und ihr besonders am Herzen liegen. Für die Sammlerin ist es gerade das Ungeschriebene zwischen zwei Daten, das es zu bewahren gilt: das Leben zwischen Beginn und Ende. Und darüber findet sich heutzutage oft nicht mehr viel. „Da haben die Leute 70, 80 Jahre lang gelebt, waren für die Familie da, waren Mütter, Väter, Großeltern, Onkel, Tanten, und nichts davon erfährt man“, bedauert sie. Gerade Geburts- und Sterbeort sowie Beruf würde sie gerne wieder auf heutigen Sterbebildern lesen. 

Vor allem in den 1960er- und 70er-Jahren seien die Sterbebilder nüchterner geworden: Man hatte durch den Zweiten Weltkrieg den Tod „lange genug im Haus gehabt und wollte wieder leben“. Ab den 1970ern seien die Sterbebilder wieder mit mehr Zuwendung gestaltet worden, erklärt Jörg, in deren Sammlung sich auch einige prominente Verstorbene finden, darunter etwa Kaiserin Elisabeth, John F. Kennedy, Prinzessin Diana oder der Schauspieler Gustl Bayrhammer. Auf den Bekanntheitsgrad legt Jörg aber keinen besonderen Wert: „Ein Meier ist mir genauso willkommen wie ein Graf“, erzählt sie: „Mir geht’s um die Seelen, nicht um den Wert!“ Der Mensch, der dahinter steht, sein Leben und seine Geschichte, das ist es, was für die Sammlerin das Sterbebild ausmacht: „Jeder hat schließlich Wichtiges geleistet oder es zumindest versucht.“ Und Jörg versucht, diese Geschichten zu bewahren. Längst ist sie bekannt für ihre große Sammlung und das umfangreiche Material, Krieger- und Heimatvereine suchen sie auf, Ahnenforscher und Historiker. Ein Jahr lang war der Bayerische Landesverein für Familienkunde,
dem Jörg selbst angehört, bei ihr wöchentlich zu Gast, um alle Totenzettel zu erfassen und einzuscannen. Jedes neue Exemplar, das sie erhält, landet ebenfalls in der Datenbank. Sie selbst sammelt ihre Sterbebilder in Ordnern und katalogisiert sie in einer Excel-Datei. 

Und so entstehen neue Geschichten, die Jörg zu erzählen weiß. Von der Frau, die bei der Sammlerin nach einem Sterbebild fragt und so zum ersten Mal ein Foto ihres Vaters sieht. Oder von dem Mann, der auf einem Seminar vom Hobby der Gaimersheimerin erfährt und darüber spottet, dann aber in einem ihrer Alben mit Soldatenbildern das Sterbebild seines gefallenen Onkels findet, von dem der Familie kein Foto erhalten geblieben war. Die Sammlerin kann von vielen solcher Begebenheiten erzählen. Durch ihr Hobby, dem sie täglich viele Stunden widmet, trifft Geschichte auf Geschichten, und die Schicksale der Toten sind unauflösbar verknüpft mit jenen der Lebenden. 

Trauer und Erinnerung

Die Gestaltung des Sterbebilds ist für viele eine Form der Trauerbewältigung und ein wichtiger Prozess der Trauerarbeit. Das kann auch Sabine Mayinger vom Bestattungsinstitut Mayinger bestätigen. Die Auswahl der Bilder und Texte für den „Trauerdruck“, wie Todesanzeige und Sterbebild, die oft ähnlich gestaltet sind, in ihrem Berufsfeld genannt werden, nehmen viel Raum im Beratungsgespräch ein. Meist habe sie zwei Mappen dabei, in einer blättere sie, in einer anderen die Hinterbliebenen, und im Gespräch über den Verstorbenen finde sich dann etwas Passendes. Dabei zeige sich auch ein großer Wandel in der Ge-staltung, erklärt die Expertin.  Der Trend gehe zu moderneren Texten,von frommen Motiven hin zu persönlichen Bildern: Urlaubsfotos oder der eigene Garten zieren häufig die Titelseite, auch Naturmotive seien sehr beliebt. Gerade in Eichstätt fänden sich jedoch noch häufig Kirchen- und Altarmotive, Gnadenbilder oder der Frauenberg, so Mayinger.

Es ist einer der letzten Liebesdienste, die man einem Verstorbenen erweist. In der Wahl des Titelbildes wie des Fotos der Person sucht man deren Wesen abzubilden, ein Zitat oder einen Bibelvers zu wählen, das auf den geliebten Menschen zutrifft, ihn beschreibt. Auch wenn die kostbarsten Erinnerungen keiner Abbildlichkeit bedürfen: Sterbebilder sind papierene Epitaphe, die man an die Trauergäste verteilt. Vielleicht auch deswegen hat sich dieser Brauch bis heute gehalten, selbst in Zeiten bröckelnder Frömmigkeit und institutioneller Krisen. 

Verena Lauerer

 

Für an Ahnenforschung Interessierte finden die Datenbank unter Sterbebildprojekts des Bayerischen Landesvereins für Familienkunde

 


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