Serie: Lebensfragen - Lebenshilfe
Der Zauber des Verzeihens
Eine Stunde nach einer heftigen Auseinandersetzung fragt Peter seine Frau Sophie: "Sind wir wieder gut?" Sie lächelt und antwortet: "Natürlich". Mit einem Mal fällt die aufgebaute Spannung von beiden ab und sie beschließen spontan, nach dieser erleichternden Versöhnung, noch ins nahegelegene Gasthaus zu gehen.
Wir alle kennen die Erlösung, welche uns durch das Verzeihen, Vergeben und Versöhnen zu teil wird. Die große religiöse und existentielle Dimension wird uns bewusst, wenn wir im "Vater unser" beten: "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". Im Folgenden möchte ich Ihnen in zwei Abschnitten einige Grundlagen zur wichtigen Lebensaufgabe "Verzeihen und Vergeben" vorstellen: Berlin im Jahre 1927. Eine junge russische Psychologin namens Bljuma Zeigarnik beobachtet in einem Café folgendes Phänomen: Der Kellner, der sie so freundlich bedient, nimmt während ihrer Anwesenheit zahlreiche weitere Bestellungen auf, an die er sich alle problemlos erinnern kann – bis er sie abrechnet. Danach weiß er nicht mehr, ob er den Gästen eine Tasse Kaffee, ein Kännchen Tee oder ein Stück Kuchen serviert hat. An der Berliner Universität beginnt Zeigarnik im Rahmen ihrer Doktorarbeit das von ihr beobachtete Geschehen genauer zu untersuchen. Das Ergebnis ihrer Forschungsarbeit, das seither unter dem Namen "Zeigarnik-Effekt" zum Basiswissen der Psychologie zählt, lautet: Wenn wir eine Herausforderung haben, zum Beispiel eine heftige Auseinandersetzung, bauen wir eine innere Spannung auf. Diese löst sich erst dann auf, wenn wir die Aufgabe abgeschlossen haben – wie Peter und Sophie im eingangs erwähnten Beispiel. Anderenfalls bleibt die Spannung bestehen und sorgt dafür, dass uns die unerledigte Aufgabe weiter in unserem Gedächtnis beschäftigt und uns möglicherweise stark belastet.
Im Rahmen meiner Arbeit an der Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle kommt mir immer wieder der "Zeigarnik-Effekt" in den Sinn, wenn es zwischen den Partnern in einer Liebesbeziehung um die Herausforderung des Verzeihen und Vergebens geht. Erfreulicherweise erlebe immer wieder, dass es beiden Partnern im Beratungszimmer und zuhause Stück für Stück gelingt, einander verschiedenste Verletzungen und Kränkungen zu verzeihen. An den ausgetauschten Worten, an den liebevollen Blicken, an den zärtlichen Berührungen wird mir dann klar, dass es die Partner geschafft haben, sich von der aufgebauten Spannung, dem zermürbenden Klammern an alte Wunden und vom Groll aufeinander zu befreien. Der Zauber des Verzeihens in einer Partnerschaft und eine zunehmende Fähigkeit beider, zugefügte Verletzungen wieder gutzumachen, trägt nahezu immer zu einer Intensivierung der Beziehung bei.
Eine Lebensaufgabe
In dem äußerst lesenswerten Buch "Geborgen im Leben", welches Elisabeth Kübler-Ross kurz vor ihrem Tod veröffentlichte, schrieb die weltbekannten Ärztin und Sterbeforscherin: "Wir alle haben in der Zeitspanne, die wir das ‚Leben’ nennen, bestimmte Lektionen, die wir lernen müssen. In der Arbeit mit Sterbenden tritt dies besonders klar zutage. Sterbende lernen am Ende ihres Lebens sehr viel, doch meistens ist es zu spät, diese Lehren umzusetzen". Gerne stelle ich Ihnen einige spannende Gedanken der Autorin zur Lebensaufgabe "Verzeihen und Vergeben" vor:
- Wenn wir als Kinder verletzt wurden oder andere verletzten, sagten wir meistens ‚Bitte um Entschuldigung’. Jetzt, da wir Erwachsene sind, kommen uns solche Entschuldigungen nicht mehr so oft über die Lippen.
- Bezeichnenderweise sind wir selbst die Person, der wir am öftesten etwas verzeihen müssen.
- Das Verlangen nach Rache blockiert die Vergebung. Vergeltung zu üben gibt uns nur ein vorübergehendes Gefühl der Erleichterung und Befriedigung.
- Wenn wir uns nicht vergeben können, bleiben wir stecken. In Verletzung zu leben, hält uns in der Opferrolle fest.
- Wenn wir einander vergeben, handelt es sich um Nächstenliebe. Wir denken daran, dass die anderen nicht in bester Form waren, als sie uns verletzten.
- Vergebung, der Schlüssel zur Heilung, bedeutet, das Vergangene loszulassen.
- Verzeihen und Vergeben hilft uns, den Frieden zu bewahren und mit der Liebe in Berührung zu bleiben."
Ich wünsche Ihnen, dass Sie diese schöne und anspruchsvolle Aufgabe weiterhin gut in Ihr Leben integrieren.
Dr. Gerhard Nechwatal, Kirchenzeitung vom 2. November 2014
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